Das Jahr und die Angst.





In gewisser Weise hatte 2020 bereits in den letzten Dezembertagen des alten Jahres begonnen. Auf dem Parkplatz vor dem Supermarkt am öffentlichen Bücherschrank. Im Gespräch mit einer älteren Dame im Wintermantel und roter Wollmütze, deren Mann kürzlich gestorben war und die jetzt allein lebte; mit Gedanken über Weihnachten, über das Alleinsein, über das Lesen und über das trotz allem Zufriedensein. Es war unversehens eine Art Leuchten zwischen uns entstanden und für Momente hatte ich damals gewünscht, diese Begegnung auszudehnen, sie fortzusetzen, miteinander weiterzusprechen, Namen und Telefonnummern auszutauschen. Dazu kam es zwar nicht, aber ich verließ dieses Treffen mit einem kleinen, schon etwas zerlesenen Taschenbuch, welches sie aus dem Schrank gezogen und es mir wie einen dringenden Auftrag in die Hand gedrückt hatte: „Lesen Sie. Sie werden es nicht mehr weggeben wollen!“
Das Buch hieß „Die Wand“, geschrieben von Marlen Haushofer. Jene Geschichte, in der eine Frau während eines Aufenthaltes in den österreichischen Alpen sich eines Morgens plötzlich von einer unsichtbaren Wand umgeben sieht und fortan inmitten der Berge, lediglich in Gesellschaft einer Kuh, einer Katze und eines Hundes ihr Leben und Überleben gestaltet - dem Wetter, den Jahreszeiten, allem Hellen und Dunklen - und sich selbst ausgeliefert.

Ein weiteres Buch, welches wie ein Orakel den Übergang in dieses Jahr 2020 prägte, wurde durch eine Freundin an mich herangetragen: „Wenn alles zusammenbricht.“. Zu Beginn eines der ersten Kapitel heißt es: „Wenn alles zusammenbricht und wir am Abgrund stehen, dann ist es der Prüfstein für jeden von uns, auf dieser Kippe stehen zu bleiben und nichts zu verfestigen. Der spirituelle Weg führt nicht in den Himmel. Es geht nicht darum, an einen Ort zu gelangen, an dem endlich alles vollkommen ist.“ Die Frau, die das schreibt, heißt Pema Chödrön und ist eine tibetische Meditationslehrerin.

Vielleicht sind diese beiden Bücher ja "schuld" an allem? Vielleicht hätte ich andere Lektüre zum Jahresbeginn auswählen sollen und alles wäre anders gekommen? „Wege zu Glück und Wohlstand“, „Das universelle Geheimnis ewiger Jugend“, „Denke Dich reich“ und „Asterix besiegt das Killervirus“… Hätte das etwas geändert? Wahrscheinlich nicht. Das Jahr ist nun einmal gekommen, wie es gekommen ist.
Und es wird wieder gehen. Schon morgen. Es wird mich und uns alle verlassen - wie das Wasser eines Flusses, der durch unsere Leben hindurchgeflossen ist. Vieles hat dieser Strom mit sich gerissen, an mancher Stelle keinen Stein auf dem anderen gelassen, manches wurde sanft bereinigt, manches ging verloren. Wie Treibgut aus früherem Dasein hat das Wasser uns alte Ängste ins Gesicht geschleudert, den Boden unter den Füßen weggespült und mit der Wucht eines Tsunamis Teile unserer Existenz infrage gestellt.

Begonnen hatte das Jahr für mich persönlich nicht nur mit den beiden erwähnten Büchern, sondern vor allem mit einem tief sitzenden und übermächtigen Gefühl: mit Angst. Großgeschrieben. ANGST. Und davon richtig viel.
Die zu Beginn noch etwas diffusen Informationen aus China, das Ungewisse jenes neuen Virus, die wie ein Dämon plötzlich im Raum stehenden Bilder von Krankheit und Tod hatten mich bald (und zwar viel früher als mein gesamtes Umfeld) beinahe komplett im Griff. Fieberhaft durchforstete ich alle verfügbaren Quellen über Fallzahlen und mögliche Ansteckungswege, wurde Mitglied in mehreren Corona-Facebookgruppen, legte Arsenale von Desinfektionsmitteln an, kaufte auf Verdacht diverse Medikamente, welche im Notfall vielleicht helfen könnten, argumentierte meinen Freunden und Verwandten die Ohren wund, schrieb diesen Artikel vom Überleben - und war innerlich bereits auf ein Leben in vollkommener Isolation vorbereitet, lange bevor der Gedanke daran auch nur ansatzweise in der politischen Agenda auftauchte… Vollkommene Klausur, das schien mir das Allheilmittel zu sein. Türen zu, Ruhe vor der Welt, Schutz vor dem Virus.

Aber dann wurde es Frühling, und auf die Eiskruste meiner Angst fielen wie einzelne Körnchen von Streusalz verschiedene Gedanken, Informationen und Impulse. Ein Interview mit dem Traumatherapeuten Franz Ruppert, von einer Freundin zugesandt, hatte den Anfang gemacht; vereinzelte Äußerungen von Freunden und Bekannten in Telefonaten oder über soziale Medien kamen hinzu, außerdem viele Stunden absichtsloser Meditation, einfach nur sitzen, nichts wollen, nichts denken, dazu lange Spaziergänge - und irgendwann setzte buchstäblich Tauwetter ein. Die Angst wurde immer kleiner, unscheinbarer, sie zog sich zurück, bis sie schließlich nahezu verschwand. 
Es war keine Selbstüberwindung, keinerlei Kraftanstrengung, kein drachentötendes Heldentum vonnöten gewesen - sie war einfach gegangen, war geschmolzen, hatte sich aufgelöst, war weg.
Und ihr Verschwinden gab mir mit einem Mal den Blick frei - auf mein eigenes Leben, auf das, was gut war, aber auch, was darin nicht mehr stimmte und geändert werden musste, wenn ich weiter leben wollte...
Nach dem ersten Erschrecken und Taumeln über diesen weiten Raum, in dem ich mich plötzlich befand, begann ich nach und nach freier zu atmen, meine nächsten Schritte zu gehen. Kein Plan, kein Weg, aber doch alles offen; voller Staunen, die Welt, mein Leben - ein großer Garten.
Für mich.

Mittlerweile hatte die Welt „draußen“ damit begonnen, völlig zuzumachen.
Gesichtsmasken, bis dahin als nutzlos verschrien, waren mit einem Mal en vogue. Vor wenigen Jahren noch öffentlich von hoher Stelle als „kein guter Ratgeber“ betitelt, avancierte die Angst im Gewand der Virusfurcht plötzlich zu einer Art neuer Staatsreligion. 
Im Februar und März war ich noch als Einzige mit Mund-Nasenschutz und Handschuhen durch den Supermarkt gelaufen und wurde komisch angeschaut. Ab April war es plötzlich umgekehrt.
Ein Buch von Birgit Vanderbeke, vor vielen Jahren gelesen, kam mir in jenen Tagen wieder in den Sinn, und daraus dieser Satz: „Aber schließlich kam Lembek hoch, und als ich aufmachte, sagte er, bei Ihnen steckt außen der Schlüssel, haben Sie keine Angst, und ich sagte, doch, und wie, aber ausgerechnet nicht solche.“
Genau so. Diese spezielle Art der Angst, die Ansteckungsangst hatte einfach aufgehört, mich zu interessieren. Ich fasste den Einkaufswagen an und griff mir anschließend trotzdem ins Gesicht, umarmte mich mit anderen Menschen (sofern diese damit einverstanden waren) und wusch mir nicht jedes Mal nach dem Nachhausekommen als erstes panisch die Hände. Es war einfach nicht mehr wichtig.
Mit der Zeit begriff ich, dass die Angst vor der Krankheit nur die Kostümierung einer anderen Angst gewesen war. Einer Angst, deren Namen ich nicht so genau kannte, die aber viel zu lange mein Begleiter gewesen war, fast so vertraut wie ein treuer Hund. Und die sich nun endlich in Frieden verabschiedet hatte.

Es ist nicht alles zusammengebrochen in diesem Jahr, und glücklicherweise musste ich auch nicht (wie viele meiner freischaffenden Kollegen und Freunde) in dieser Zeit um die Existenz kämpfen; äußerlich ist zwar nicht alles, aber doch vieles an seinem Platz geblieben, und das Gros der Dinge, die sich bewegt haben, ist eher innerer Natur.
Mehr und mehr hatte ich begonnen, auf mich selbst zu hören, fand meinen eigenen Rhythmus im Gehen und im Atmen, wurde Höhlentaucher für die tiefen Gänge meiner Seele und machte meine persönliche Reise ins Innere der Welt - einer Welt, die unbeeindruckt vom äußeren Jahrmarktbudenzauber ihre stillen, großen Räume auftat.
Die Plätze, an die mich das Leben in diesem Jahr geführt hat, waren nicht unweigerlich spektakulär, äußerlich vielleicht sogar ein wenig unscheinbar - ein kleiner Ort in den Tiefen des Bayerischen Waldes, die Feldwege rund um mein seit einigen Jahren zur neuen Heimat gewordenes niederrheinisches Dorf, mein Computerarbeitsplatz, der mich über Skype und Zoom mit der Welt verbindet: mit Kollegen, mit vertrauten, langjährigen Freunden und Weggefährten und jenen, die in diesem Jahr neu in mein Leben, in mein Herz gekommen sind - und die dieses Leben alle zusammen mit ihren Gedanken, ihren Worten und ihrem Sein reich und besonders machen.

Wo der Weg hinführt, wenn die Türen sich demnächst wieder öffnen; wie die Welt aussehen mag und was wir erblicken werden, wenn wir aus den ideellen Luftschutzkellern irgendwann heraussteigen; ob wir uns dann vielleicht die Augen reiben werden angesichts von so viel Sonne und Helligkeit? Ich weiß es nicht.
Eine „schöne neue Welt“, soviel ist spätestens seit Aldous Huxley bekannt, muss nicht unbedingt schön sein. Und auch nicht zwangsläufig neu...
Aber während ich diese Zeilen hier schreibe, fällt mein Blick auf ein Kalenderbild für diese letzten Dezembertage: Es zeigt einen Mann auf einem Seil balancierend. Das Seil ist schräg nach oben gespannt. Wohin es letztlich führt, ob sich der Mann die gesamte Strecke über auf dem Seil halten und sein Ziel erreichen wird, lässt das Bild nicht erkennen. Der Ausgang ist offen. Dennoch habe ich ein Gefühl von Vertrauen. Dass es weitergeht. Dass ein Weg zu finden sein wird. Dass es möglich ist, die Balance zu halten und den eigenen Schwerpunkt zu erspüren. Und dass das Leben weitergeht.

Das Buch aus dem Bücherschrank vor dem Supermarkt hat jedenfalls seinen Platz in meinem Regal und in meinem Herzen gefunden. Ich schlage noch einmal die letzte Seite auf: „Die Krähen haben sich erhoben und kreisen schreiend über dem Wald. Wenn sie nicht mehr zu sehen sind, werde ich auf die Lichtung gehen und die weiße Krähe füttern. Sie wartet schon auf mich.“

Sibylle Eichhorn, 30. Dezember 2020






Quellennachweis:
• Marlen Haushofer: "Die Wand", Herausgeber: Ullstein-Verlag
• Pema Chödrön: "Wenn alles zusammenbricht. Hilfestellung für schwierige Zeiten", Goldmann-Verlag
• Prof. Dr. Franz Ruppert, Psychotherapeut
• Birgit Vanderbeke: „Ich sehe was, was Du nicht siehst“. Alexander Fest Verlag, Berlin 1999
• Aldous Huxley: "Schöne neue Welt" (Originaltitel "Brave new world", 1932)