„So will ich diese Tage mit Euch leben“ • Gedanken im Frühjahr 2020



Wir haben den 26. März. Vor den Fenstern explodiert der Frühling. Narzissen, Hyazinthen, Magnolien, Kirschbäume - sie alle scheinen sich gegenseitig übertrumpfen zu wollen unter dem strahlend blauen Himmel. Vögel zwitschern bereits durch die Abendstunden, Bienen und Hummeln summen im Rosmarinstrauch. Es ist ein Traumfrühling, wie man ihn für die schönsten Postkarten nicht besser malen könnte. Etwas kalt vielleicht, aber ansonsten makellos.
Und inmitten all des Blühens lebt die Angst. Da machen wir einen großen Bogen um unsere Mitmenschen, wenn wir ihnen beim Spazierengehen begegnen. Gesichter verschwinden hinter Atemschutzmasken (sofern wir welche besitzen), hinter Sonnenbrillen und vor Mund und Nase gebundenen Schals. Hände werden gewaschen und desinfiziert, als ginge es um das Leben. Und ja, genau darum geht es: um unser aller Leben.
Die Zeit, in welcher die Menschen normalerweise wie die Schmetterlinge aufeinanderzufliegen, sich draußen auf den Straßen und Plätzen, in den Cafés, an den Uferpromenaden tummeln und sich am liebsten frisch verlieben möchten, wird dieses Mal zu einer Periode des Rückzugs, der Isolation, der Vorsichtsmaßnahmen. 

Bereits im Januar, oder eventuell noch früher, hatte die Epidemie in China ihren Anfang genommen. Inzwischen ist diese Covid-19-Erkrankung ein weltweites Thema, auch Pandemie genannt, und dürfte selbst diejenigen, welche die Sorge anfangs noch belächelt und sich selbst oder ihr eigenes Land sicher gewähnt hatten, zumindest im Geist erreicht haben.
Im übertragenen Sinne hatte mich diese Epidemie bereits sehr früh „erwischt“. Schon Wochen bevor das Virus in Italien sich auszubreiten begann und dort rasch die ersten Todesopfer forderte, war ein Teil von mir in den erhöhten Wachsamkeitsmodus gegangen. Nach und nach installierte ich kleine Vorsichtsmaßnahmen im Alltag: hielt Abstand zu anderen Menschen, mied nach Möglichkeit größere Veranstaltungen, kaufte, einem Instinkt gehorchend, regelmäßig etwas mehr ein, achtete auf Haltbarkeit und hielt Ausschau nach Dingen, die mich und meine nächsten Menschen im Notfall unterstützen könnten. Dafür habe ich einiges an Verwunderung, Unverständnis und vielleicht auch unausgesprochenen leichten Spott geerntet. 
Mittlerweile sind diejenigen, welche das Thema vor einer Weile noch ignoriert haben, auch „infiziert“; die früheren Lustigmacher posten nun keine Hamsterkauf-Cartoons mehr, sondern praktische Tipps für Präventionsmöglichkeiten, häusliche Fitnessübungen und Bauanleitungen für Atemschutzmasken - und bestimmt googelt jeder ab und an die neuesten, schockierend ansteigenden Fallzahlen und verfolgt die zahlenmäßige Entwicklung von Erkrankungen, Todesfällen und Genesenen im eigenen Land, in Europa und weltweit.
Mit letzterem habe ich seit etlichen Tagen aufgehört. Die Dinge sind ohnehin nicht mehr unter Kontrolle. Zumindest nicht unter der Art von Kontrolle, die uns selbst auch nur einen Hauch von Sicherheit schenken könnte. Die Zahlen sind letztlich nur Schein, ein schwaches Abbild der Realität. Und in dem Moment, wo es einen selbst oder einen der nächsten Menschen treffen sollte, wäre die beste und genaueste Statistik weder Trost noch Bestätigung. Dann ginge es sowieso nur mehr um eines: ums Überleben.

Und so sind wir, wenn wir ehrlich hinschauen und alle wissenschaftlichen, ideologischen oder sonstigen Überbauten einmal beiseite lassen, in dieser Zeit vor allem mit einem Thema konfrontiert: der Angst vor dem Sterben. Ob wir es uns während der Ausgangssperre zu Hause mit feinen, selbstgekochten Menüs und einem Glas Wein gemütlich machen, als Musiker Balkonkonzerte veranstalten oder einen Blogartikel verfassen; ob wir gegenwärtig um unseren Arbeitsplatz und die monatlichen Einkünfte oder um den Fortbestand unserer Firma bangen müssen, und erst recht, wenn wir einen lieben Menschen in gesundheitlichen Schwierigkeiten wissen oder gar selbst erkrankt sind - für uns alle ist das Gefühl der Endlichkeit des Lebens in diesen Tagen und Wochen viel näher gerückt und auf erschreckende Weise greifbar geworden.

Im Buddhismus hat dies eine lange Tradition. Das Akzeptieren der Tatsache, dass alles, was ist, vergänglich ist, und zwar unter allen Umständen, stellt gewissermaßen das Fundament der buddhistischen Praxis dar. 
Zum Einlesen und besseren Verständnis gibt es reichlich Literatur: „Kein Werden, kein Vergehen: Buddhistische Weisheit für ein Leben ohne Angst“ vom vietnamesischen Zenmeister Thich Nhat Hanh, oder das Buch „Wenn alles zusammenbricht. Hilfestellung für schwierige Zeiten“ aus der Feder der tibetischen Meditationslehrerin Pema Chödrön, um nur zwei Beispiele anzuführen.
Und doch liest es sich in der Theorie soviel leichter, als wenn wir den Dingen plötzlich von Angesicht zu Angesicht gegenüber stehen.
Im klaren Licht eines Meditationsraumes, bei der Gehmeditation durch einen frischgrünen Wald, beim Lesen eines Buches, beim Innehalten an einer plätschernden Quelle lässt es sich schön erleuchtet sein. Da fühlen wir uns prächtig eins mit allem und können auch leichten Herzens über die Unbeständigkeit der Natur, das Sprießen und Welken der Blätter philosophieren. Da fällt es nicht schwer, sich angekommen zu fühlen, die Buddhanatur scheint uns wie von selbst in ihren Armen zu halten und wir glauben, alles wäre einfach. Vor allem das Loslassen.
Wenn das Leben aber droht, einem den Atem zu nehmen? Woher kommt dann der innere Frieden? Woher die lächelnde Gewissheit, das alles gut würde?
Vielleicht zeigt sich dann, wie wir bisher gelebt haben, wie wir den Weg, den Acker unseres Lebens bereitet haben?

Der in diesen Tagen durch die Presse verbreitete Fall eines am Coronavirus erkrankten italienischen Priesters, welcher im Krankenhaus sein Beatmungsgerät einem jüngeren, ihm unbekannten Mitpatienten zur Verfügung stellte und daraufhin selbst an der Krankheit verstarb, mag in Teilen eine publizistische Verklärung darstellen und hat sich vielleicht nicht exakt so zugetragen wie berichtet wurde, aber zumindest stellt diese Geschichte die Möglichkeit selbstlosen menschlichen Handelns in den Raum.
Und tatsächlich gab und gibt es sie - die Meister der Menschlichkeit, die auch in Zeiten größter Beengung, Bedrohung und selbst im unmittelbaren Angesicht des Todes Glauben, Stärke und inneren Frieden praktizierten, die keiner Panik verfielen, sondern sie sicher zu erkennen und im Zaum zu halten wussten:
Dietrich Bonhoeffer, der von der Gestapo verhaftet wurde und in den mutmaßlich dunkelsten Stunden seines Lebens das unauslöschliche „Von guten Mächten wunderbar geborgen“ schrieb.
Oder jener junge Mann, der im Sommer 2018 mit der ihm anvertrauten jugendlichen Fußballmannschaft in der Tham-Luang-Höhle über Tage gefangen war, und im Dunkel der Höhle mit den Kindern Meditation übte - unwissend, ob sie das alles überleben und je gerettet werden könnten.
Was mich daran berührt, ist nicht das „Heldenhafte“, die scheinbare Angstlosigkeit. Denn Angst hatten diese Menschen mit Sicherheit auch. Bestimmt nicht zu knapp. Und das ist keine Schande. Aber das für mich Außergewöhnliche ist dieser Moment, im Gewahrsein der Angst, auch im Angesicht des Todes das Menschsein und die Kraft unseres Geistes siegen zu lassen; dem Vertrauen in etwas Größeres, Weiseres als wir selbst es sind, den Vorrang zu geben. Das Leben zu akzeptieren, auch wenn es einem gerade genommen wird.

Heute ist der Tag, an dem der erste Patient aus dem Kreis Heinsberg nach vier Wochen Intensivbehandlung erstmals ohne künstliche Beatmung auskommt. Leider ist es auch der Tag, an dem in den USA mehr Fälle bestätigt wurden als in China. Und noch ist kein Ende in Sicht. 
Dennoch: Ein Freund schrieb bei Facebook, dass er jetzt auf dem Balkon schon ganz bewusst an den Frühling im nächsten Jahr denkt, wenn wir hoffentlich wieder alle hinausdürfen ohne Sorge. - Über Youtube und Facebook erscheinen fast stündlich neue Videos von Sängern, Tänzern und Musikern, die in ihren Wohnungen und auf den Balkonen gegen das Eingeschlossensein mit ihrem ganzen Herzblut antanzen, anspielen und ansingen, während die Theater- und Opernbühnen still und verlassen ruhen. - Das Foto einer selig lächelnden Kollegin auf dem Supermarktparkplatz mit einer soeben erstandenen Packung Toilettenpapier im Arm. - Der Austausch mit Freunden via Onlinestream. - All dies wird einmal symbolhaft für die hellen Seiten dieses Frühlings 2020 stehen - wenn wir Glück haben und im nächsten Jahr (oder vielleicht auch erst in einigen Jahren) zurückschauen dürfen auf diese Monate, in denen alle angenommenen Selbstverständlichkeiten in unseren Händen, unter unseren Füßen wegbrachen, als wir erkannten, dass alles sicher Geglaubte eben alles andere als sicher war und irgendwann nur noch Eines zählte: am Leben zu sein.

Vielleicht werden wir mehr als früher dankbar sein können für alle kleinen und großen, angenehmen und beschwerlichen Dinge, die das Leben bietet, und alles mit offenen Armen annehmen.
Wir werden dann vielleicht gelernt haben, was es heißt, am Leben zu sein. Was es wirklich bedeutet, genug zu essen im Kühlschrank und ausreichend Toilettenpapier im Badezimmer zu haben, den Partner neben sich atmen zu hören (selbst wenn sein Schnarchen zuweilen das Ende unserer Träume bedeuten sollte),  die Familie um den Tisch versammelt zu haben, den Kollegen auf der Arbeit zu begegnen, wir werden gelernt haben, wie man höflich Abstand halten und sich dennoch herzlich begrüßen kann; Wir werden das Glück wertschätzen, unter freiem Himmel mit gesunden Füßen einen Spaziergang zu unternehmen, im Abendlicht die frisch gepflügte Erde auf den Feldern zu sehen, die ersten grünen Hälmchen der frischen Saat zu entdecken, einen Raubvogel über unseren Köpfen seine wachsamen Kreise ziehen zu sehen. 
Wir werden vielleicht erkannt haben, dass es auf diesen Moment ankommt, da es einen anderen nicht gibt.
Wir werden es als das höchste und wahrhaftigste Glück erkennen, tief die frische Luft einatmen zu dürfen und sie anschließend wieder frei zu lassen, einen nächsten Atemzug zu nehmen und danach noch einen...

Und PS: mit all dem müssen wir nicht auf jenen späteren Zeitpunkt, auf das Ende der Krise, ein nächstes Leben oder die großen Ferien warten. 
Wir können es bereits heute tun. 
Jetzt.

Bleibt gesund!




Von guten Mächten treu und still umgeben,
behütet und getröstet wunderbar,
so will ich diese Tage mit euch leben
und mit euch gehen in ein neues Jahr.

Noch will das alte unsre Herzen quälen,
noch drückt uns böser Tage schwere Last.
Ach Herr, gib unsern aufgeschreckten Seelen
das Heil, für das du uns geschaffen hast.

Und reichst du uns den schweren Kelch, den bittern
des Leids, gefüllt bis an den höchsten Rand,
so nehmen wir ihn dankbar ohne Zittern
aus deiner guten und geliebten Hand.

Doch willst du uns noch einmal Freude schenken
an dieser Welt und ihrer Sonne Glanz,
dann wolln wir des Vergangenen gedenken,
und dann gehört dir unser Leben ganz.

Lass warm und hell die Kerzen heute flammen,
die du in unsre Dunkelheit gebracht,
führ, wenn es sein kann, wieder uns zusammen.
Wir wissen es, dein Licht scheint in der Nacht.

Wenn sich die Stille nun tief um uns breitet,
so lass uns hören jenen vollen Klang
der Welt, die unsichtbar sich um uns weitet,
all deiner Kinder hohen Lobgesang.

Von guten Mächten wunderbar geborgen,
erwarten wir getrost, was kommen mag.
Gott ist bei uns am Abend und am Morgen
und ganz gewiss an jedem neuen Tag.


Dietrich Bonhoeffer (* 4. Februar 1906 in Breslau; † 9. April 1945 im KZ Flossenbürg)