Sie stehen als Lebkuchenkinder in „Hänsel und Gretel“ auf der Bühne, besingen das Schicksal der von Eis umgürteten Prinzessin in Puccinis „Turandot“, tollen als wildgewordene Rasselbande in „La Bohème“ über den Weihnachtsmarkt, verkörpern die Schar der Ministranten in „Tosca“ und beleben mit ihrem Spiel und ihren jungen Stimmen zahlreiche weitere Opern wie „I Pagliacci“, „Carmen“, „Die Frau ohne Schatten“, „Pique Dame“, „Werther“ oder „Der Rosenkavalier" - die Kinderchöre in der Oper.
Dass sie noch viel mehr sein können, als der frisch klingende und muntere Farbtupfer in einer „normalen“ Inszenierung, das beweisen in dieser Spielzeit die insgesamt sechzig Kinder des Kinderchors der Deutschen Oper am Rhein zusammen mit der Akademie für Chor und Musiktheater in der Uraufführung der Oper „Pinocchio“: Hier singen und spielen sie nämlich die Hauptrolle.
Sibylle Eichhorn für die Musiktheater-Zeitschrift Oper & Tanz.
Foto: Daniel Senzek (Deutsche Oper am Rhein) |
ANFÄNGE
Begonnen hatte alles vor über einem Jahr. Das Regie- und Autorenduo Marius Schötz und Marthe Meinhold war von der Deutschen Oper am Rhein beauftragt worden, ein Stück zu kreieren, bei dem der Kinderchor die Hauptrolle spielt und das im weitesten Sinne mit Pinocchio zu tun haben sollte. Seinem bereits in früheren Produktionen etablierten Arbeitsansatz treu bleibend – nämlich möglichst viel Raum für gemeinschaftliche Entwicklung, künstlerische Schaffensprozesse und authentischen Ausdruck zu lassen –, startete das Künstlerteam gemeinsam mit dem Kinderchor bei einem einwöchigen Workshop in die neue Produktion.
Zunächst durchleuchteten Schötz und Meinhold mit den künftigen jungen Hauptdarstellern von 6 bis 17 Jahren die unterschiedlichen Situationen und Abenteuer, in die Pinocchio im Laufe seiner Entwicklung buchstäblich hineingespült wird. Zusammen sammelte man auf diese Weise über sechshundert Seiten Material, woraus dann die spätere Oper entstand.
Komponist Marius Schötz berichtet über spannende Diskurse mit den Kindern zu scheinbar simplen Fragen: „Was würdet ihr an Pinocchios Stelle machen, wenn ihr in so eine Situation geratet, oder wie findet ihr das, was da passiert?“ Die Reaktionen der Kinder beschreibt Schötz als „viel tiefgreifender, philosophischer und komplexer“ als alles, was ursprünglich im Buch steht und auch als das, was das erwachsene Autorenteam je erwartet hätte. So wurden zum Beispiel unterschiedliche Aspekte der Handynutzung diskutiert, oder die Frage, ob Süßigkeiten toll sind und in einem perfekten Land jeder immer so viel davon haben solle wie er möchte. Erste Impulse und spontane Antworten dazu wurden von den Kindern rasch in Frage gestellt und reflektiert, andere Sichtweisen kamen zur Sprache, wurden gehört und respektiert. Die Kinder begannen im Workshop eigenständig darüber nachzudenken, auf welche Weise man überhaupt lernen kann, wie es sich mit der Beurteilung und möglichen Befolgung von Ratschlägen verhält und wie man zu eigenen Entscheidungen findet. Gleichzeitig schufen sie mit ihren Überlegungen die Textgrundlage für das spätere Stück.
Auf meine Frage an die beiden Regisseure, ob sie bei ihrer Erforschung des Pinocchio-Stoffes von Carlo Collodi nicht eigentlich so eine Art Philosophieseminar mit den Kindern veranstaltet hätten, kam prompt die Antwort: „Ja, die mit uns!“.
ENTDECKEN
Ein Samstagmorgen im Februar auf der Probebühne. 28 Kinder sitzen erwartungsvoll auf dem Boden und lauschen konzentriert den Worten des Choreografen Lin Verleger. Es sind die „Kleinen“ von zirka 6 bis 10 Jahren, der so genannte Vorchor. Sie singen und spielen in „Pinocchio“ die Rollen der Grille und der Schlange.
Die Probe beginnt mit einem Warm Up: durch den Raum laufen, sich dehnen, strecken, auf dem Boden krabbeln, rückwärts und seitlich gehen, Stop and Go, so hoch wie möglich und so leise wie möglich springen. Ein Schokoladeneis spielen, das schmilzt. Der Grillentanz: rechts, links, rechts - eins, zwei, drei. Wie springt eine Grille an die Decke?
Jedes Kind findet seinen individuellen Weg, seine eigene Sprache. Spielerisch werden Bewegungsmöglichkeiten und Ausdrucksformen erkundet und gleichzeitig üben die Kinder, miteinander als ein Charakter, ein Körper zu agieren. Dennoch haftet dem Geschehen zu keinem Zeitpunkt etwas Uniformiertes oder Gedrilltes an.
Zum Abschluss fragt der Choreograf: hat es Euch Spaß gemacht? „Jaaaaa!“ erschallt es einhellig begeistert aus 28 Mündern.
Nach der Pause geht es mit den „Großen“ weiter. Entspannungsübungen am Boden, leichtes Dehnen und Drehen, Schulung der Körperwahrnehmung. Konzentrierte Stille im Raum, nur vereinzelt ein kleines Kichern. Fallen und Aufstehen, ohne sich wehzutun. Wie rolle ich am Boden liegend über die Bühne, ohne die Orientierung zu verlieren?
Schon nach kurzer Zeit muten die Bewegungen wie das Training einer professionellen Tanzkompanie an. Wirklich alle machen mit, probieren sich aus, geben sich Mühe, nehmen die Aufgaben ernst und sind sichtbar mit ganzem Herzen dabei. Die Räume der Probebühne erfahren an diesem Vormittag mitreißende Wellen von Entdeckerfreude, positiver und lebensvoller Energie.
THEATERZAUBER
Einige Wochen später ist zu erleben, wie die Kinder sichtlich in ihre Arbeit als Darsteller hineingewachsen sind. Zum Probenbeginn sitzen wieder alle miteinander im Kreis, hören die Ansagen des Regieteams, stellen ihre Fragen – und es sieht aus, als wären die jungen Künstler in dieser Arbeitssituation bereits ganz zu Hause. Nach den ersten Aufwärmübungen – Klopfen, Schütteln, Springen – werden die für Pinocchio benötigten Bewegungsabläufe geübt: am Boden liegen und sich als Holzpuppe ins Sitzen bringen. Wie geht das? Wie fühlt sich eine Puppe, wie bewegt sie ihren Körper?
Obwohl alles noch neu ist, entsteht schon bald eine Art Zauber: diese spezielle Art von Theaterzauber, der unabhängig von Kostümen, Licht oder Bühnenbild lebt und vibriert, der aus der Vorstellungskraft, dem Gedanken, der Aufmerksamkeit und der Liebe zum Spiel erwächst. Ein Zauber, aus dem dieser spezielle Funke entspringt, der letztlich auch den Orchestergraben und die Distanz eines großen Theatersaales zu überwinden und in Lichtgeschwindigkeit die Herzen der Zuschauer zu erreichten vermag.
Bis „Pause“ gerufen wird, halten die Kinder konzentriert anderthalb Stunden durch, dann setzen sich alle in Grüppchen zusammen, es werden Trinkflaschen und Lunchboxen ausgepackt, es wird gesprochen und erzählt, aber dabei ist es viel stiller, als die Anwesenheit von fast vierzig Kindern und Jugendlichen im Raum eigentlich erwarten ließe. Aus einer Ecke erklingt spontan mehrstimmiger Gesang, Kichern, Lachen, ein paar Gesprächsfetzen ...
SINGEN
Sabina López, seit über zehn Jahren Leiterin des Kinderchors am Rhein, bereitet die jungen Sängerinnen und Sänger nicht nur für ihre Auftritte in der Oper oder auf der Konzertbühne, sondern auch in der Probe auf ihren stimmlichen Einsatz vor: zunächst wird der Körper gelockert – mit Schütteln, Klopfen, Springen, Atmen –, erst dann geht es ans eigentliche Singen. „Die So - die So - die So-o-onne“ klingt es immer höher hinauf und strahlt aus den jungen Kehlen scheinbar mühelos durch den Saal.
Durch frühe eigene Erfahrungen als Mitglied eines Kinderchores, über eine klassische Gesangsausbildung und den späteren Studiengang „Singen mit Kindern und Jugendlichen“ an der Folkwang-Universität in Essen ist Sabina López buchstäblich in die professionelle Beschäftigung mit Kinderchören hineingewachsen. Bei ihrer musikalischen Arbeit mit den jungen Stimmen kann sie somit nicht nur aus reichem eigenen Erleben und Wissen schöpfen, sondern auch bedeutsame kritische Punkte benennen: Häufig lernen Kinder das Singen nicht mehr auf natürliche Weise, da über weite Strecken ein förderliches stimmliches Leitbild fehlt, denn Eltern und Erzieher singen mit den Kindern entweder gar nicht oder aber in zu tiefer (Sprech-)Lage, was für die jugendlichen Stimmen nicht gesund ist. Auch Rock- oder Popmusik setzen für die vokale Entwicklung oft kontraproduktive Akzente, indem die Stimme einen zu tiefen, perkussiven oder forcierten Einsatz erfährt und so falsche Vorbilder generiert werden.
Genau hier setzt die sängerische Arbeit der Kinderchorleiterin an: das Gefühl für entspannten Melodiefluss und Kopfstimme zu entwickeln, die richtige Stimmlage zu finden, dabei den natürlichen Tonumfang sensibel und ohne Druck auszuloten. Die Stimme soll einerseits ausgebildet und bis zu einem gewissen Grade gefordert werden, aber es muss dabei immer die natürliche, ganz persönliche und gesunde Kinderstimme sein. Nichts Nachgemachtes oder künstlich Erzeugtes.
Diese grundlegende Arbeit geschieht neben dem gemeinsamen Singen im Chor in kleinen Gruppen, um die Kinderstimmen in ihren unterschiedlichen Entwicklungsstadien individuell und verantwortungsvoll begleiten zu können, beispielsweise auch während des Stimmbruchs.
Wie steht es um die Intonation? Hat der Ton zu viel Luft? Mit welchen Übungen lässt sich das verbessern? Wie können die Kinder bei ihrem Singen in spielerischer Weise unterstützt werden, damit sie sich besser fühlen und die Stimmen sich auf natürlichem Wege in die passende Lage hinein entwickeln können? Hier ist auch die Schulung von Selbstwahrnehmung und Selbstkontrolle der jungen Sängerinnen und Sänger von Bedeutung.
Beim genauen Hinschauen ist übrigens zu verzeichnen, dass der Chor fast ausnahmslos aus Mädchen besteht und sich bedauerlicherweise nur sehr wenige Jungen darunter befinden. Gelten Singen, Tanzen und Schauspiel bei den jungen Herren tatsächlich als „uncool“? Das wäre wirklich schade - und die Korrektur dieses vermuteten Vorurteils könnte zukünftig vielleicht ein Ansatz bei der musikpädagogischen Betreuung in Kindergärten und Schulen werden.
Dass Singen jedenfalls noch viel mehr bedeutet als Tonerzeugung zur rechten Zeit auf korrekter Höhe, erläutert Chorleiterin Sabina López im Zusammenhang mit der Sprachförderung für Kinder. Bevor kleine Kinder anfangen zu sprechen, singen sie häufig schon. Bereits Babys malen unterschiedliche Laute in unterschiedlichen Tonhöhen und sind in der Lage, Emotionen wie Freude, Erstaunen oder Schmerz zu äußern, lange bevor sie sich verbal ausdrücken. Auch wenn beispielsweise ausländische Kinder die deutsche Sprache noch nicht beherrschen, so sind sie doch bald in der Lage, Kinder- oder Volkslieder mitzusingen und sich dadurch als Teil der Gemeinschaft zu fühlen.
Zudem lehrt Singen etwas über Individualität und Vielfalt – jede Stimme ist unterschiedlich. Die eine Stimme kann vielleicht besonders hoch singen, eine andere besitzt dafür mehr Volumen, einen auffallend warmen oder besonders hellen Klang. Den Varianten sind keine Grenzen gesetzt, es gibt keine Schablone, in die alle hineinpassen müssen, sondern jede Stimme ist auf ihre spezielle Weise schön.
Dies zu erkennen und wertzuschätzen, anstatt sich im Konkurrenzkampf um ein „Besser, Schneller, Höher“ aufzureiben, ist eine der Motivationen, die Sabina López in ihrer Arbeit mit den Kindern besonders am Herzen liegt.
Und last not least: Singen ist etwas, wofür wirklich alle ihr Instrument bereits dabei haben; man muss nichts extra anschaffen oder in großen Koffern transportieren, auch braucht man in der Wohnung keinen extra Platz zu schaffen, um die eigene Stimme erklingen lassen zu können.
AUF DIE BÜHNE!
Und wie kommt nun alles zusammen? Singen, Tanzen, Spielen und die Geschichte von Pinocchio – dargestellt von vierzig Kindern in der Hauptpartie, die über pausenlose anderthalb Stunden auf der Bühne sein werden? Schließlich ist dies das erste Mal, dass der Kinderchor mit einer Hauptrolle auf der Opernbühne steht. Und zugleich hat Marius Schötz mit „Pinocchio“ seine erste Oper komponiert und erschafft gemeinsam mit Marthe Meinhold erstmalig eine Inszenierung mit Kindern und für Kinder.
Wer allerdings die Probenarbeit miterlebt, mag beides fast nicht glauben. Alles wirkt so vertraut, entspannt und freundlich, als hätten die beiden Regisseure und die Kinder nie etwas anderes miteinander getan – konzentriert, produktiv, stets voller Respekt, Wertschätzung und mit Begegnung auf Augenhöhe.
Schötz und Meinhold beschreiben die jungen Darsteller als „Experten des Alltags“, als ernstzunehmende Partner, und führen aus, wie sensibel und offen sie die Kinder bei der Arbeit erleben. In radikal liebevoller Weise zeichnen sie ihre Idee von durch und durch lebendigen Pinocchios als vollkommen authentischen, heutigen Kindern, die dieser Welt und ihren Herausforderungen begegnen. Gleichzeitig beschreiben sie die eigene Suche nach Balance, im Stoff sowohl das unterhaltende Element zu zeigen als auch inhaltliche Tiefe stattfinden zu lassen, sowie ihren Umgang mit Unsicherheiten und das aus diesem ganzen Prozess erwachsende Geschenk von innerem Vertrauen und einer Art Furchtlosigkeit. Dass dies kein geradliniger, fertiggepflasterter und beschilderter Weg sein kann, sondern ein suchender Prozess, in dem Dinge erfragt werden, im Laufe dessen sich herangetastet und zuweilen auch zunächst unsicher erscheinendes Terrain betreten wird, liegt auf der Hand.
Aber gerade das erzählt beim Zuhören für mich etwas Wunderschönes, nicht allein über das Entstehen von Theater, sondern auch über das Leben. Über das Leben, das Pinocchio von Abenteuer zu Abenteuer, durch seine Begegnungen mit Fuchs und Kater, der schrillen Lehrerin, einer mysteriösen Fee und dem Inneren des Riesenwalfischs tiefer und genauer erfährt, so dass er sich dabei selbst und seine Umwelt immer mehr kennenlernt.
So erlebt Pinocchio mit jedem Schritt, den er neu unternimmt, nicht allein, dass der Boden trotz aller Irrtümer und Verfehlungen letztendlich trägt - sondern weit darüber hinaus schreibt dieser kleine „Holzjunge“ seine ganz persönliche Geschichte vom Lernen, Erwachsenwerden und letztlich Menschwerden: „Vielleicht lerne ich hier gerade was. Und zwar, wie ich meinen Kopf einsetze und wie ich mein Herz einsetze. Und zum Schluss weiß ich nur, dass ich das kann.“
PREMIERE
Als nach Wochen und Monaten der gemeinsamen Arbeit schließlich der Vorhang aufgeht und den Blick auf die fertige Inszenierung mit vierzig kleinen, in beeindruckendem Gleichklang agierenden und dabei vollkommen individuell erscheinenden Pinocchios freigibt, als die kleinen Grillen lautlos und hoch springend die Bühne bevölkern, die jungen und frischen Stimmen den Saal des Theaters leuchten lassen und nach dem letzten Akkord der Jubel und Applaus aus Kinder- und Erwachsenenhänden nicht enden will – spätestens da wird klar, dass sich dieses Opernwagnis mehr als gelohnt hat.
Doch weit über diese neunzig anrührenden und poetischen Theaterminuten hinaus wird kleinen wie großen Zuschauern die ermutigende und tiefgreifende Erkenntnis geschenkt: Dass es immer sinnvoll ist, sich auf den Weg zu begeben und Dinge zu tun, die man bis dahin noch nie getan hat, dass es im Märchen wie im echten Leben gut und lohnend sein kann, etwas zu wagen, sich zu fragen, füreinander da zu sein und sich einfach einzulassen auf das Abenteuer, das Lernen und das Wachsen.
Und: dass es am Ende sogar möglich ist, aus dem Bauch eines Riesenwalfischs wieder herauszukommen, falls der einen mal verschlucken sollte.
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Die blockweise gesetzten Zitate der „Kinderstimmen“ stammen aus Gesprächen mit Alexandra, Alina, Annika, Anton, Charlotte, Constanze, Hannah, Katharina, Kathrin, Lilith, Lotta, Maria und Milena vom Kinderchor am Rhein.
Die Uraufführung der Oper „Pinocchio“ von Marius Schötz und Marthe Meinhold nach der Vorlage des Autors Carlo Collodi fand am 27. April 2025 an der Deutschen Oper am Rhein statt und wird in der kommenden Spielzeit ab dem 30. Oktober dort wieder zu erleben sein.
Tel.: +49 173 255 93 55 / E-Mail: kinderchor@operamrhein.de
Informationen über die Arbeit der Akademie für Chor und Musiktheater gibt es unter: