Die Schatten der Macht.


Immo Karaman und Fabian Posca durchleuchten mit ihrer Wuppertaler „Krönung der Poppea“ die Klüfte und Fallstricke menschlichen Strebens.

Rezension der Premiere am 30. April 2023 für DAS OPERNMAGAZIN 




Claudio Monteverdi hatte vor etwas über vierhundert Jahren mit seinem „Orfeo“ den Grundstein für alles, was wir heute unter Oper verstehen, gelegt. In seinem letzten, knapp 30 Jahre später entstandenen Werk „L’incoronazione di Poppea“ zeichnet er das beklemmende und bis heute erschreckend zeitgemäße Portrait einer durch unersättlichen Machthunger, Manipulation und zerstörerische Ignoranz ausgehöhlten Gesellschaft. Einer Gesellschaft, die von Gier nach Ansehen und Einfluss getrieben, ungerührt über Leichen zu gehen bereit ist, in der Selbstreflexion keinen Raum mehr findet und wo sogar die wenigen unbeschädigten Charaktere am Ende der um sich greifenden Hybris erliegen.

Die Urfassung dieser Komposition gilt als verschollen. Lediglich zwei Abschriften der Partitur blieben erhalten, bei denen allerdings die Instrumentalstimmen fehlen, was in der Folge zu einer Reihe von Bearbeitungen führte. In Wuppertal wählte man die des belgischen Komponisten Philippe Boesmans. Die Besonderheit dieser Fassung besteht darin, dass Boesmans sich in seinen Arrangements von jeglichem historisierenden Bemühen gelöst hat und beherzt auf zeitgenössische Klangfarben setzte. So finden sich im Orchestergraben anstelle von Viola da Gamba und Theorbe diverse Tasten- sowie Blasinstrumente, Marimba, Vibraphon bis hin zum Synthesizer. Dadurch ergibt sich zwar ein weitgehend geschlossener Klangteppich mit fraglos interessanten Effekten, aber in gewisser Weise wird Monteverdi durch diese Camouflage seines ureigenen Charakters beraubt, bagatellisiert und zur kompakten und letztlich etwas eindimensionalen Begleitmusik sterilisiert.

Wo bleiben jetzt die Risse in der Erde oder in den Wänden? Wo bleiben in dieser weitgehend synthetischen Umsetzung das Beben, Zittern, Atmen, der Herzschlag der getriebenen, leidenden Seelen, die Öffnung hin zu zeitüberspannenden Dimensionen und im Grunde: das Unperfekte, Rauhe, Fragile, die Brüchigkeit des menschlichen Daseins?

Das ist umso bedauerlicher, als die Inszenierung von Immo Karaman, der übrigens auch für das Bühnenbild verantwortlich zeichnet, durchaus einen anderen Kurs wählt: weg von jeglicher Glättung, Perfektionierung oder Idealisierung beleuchtet Karaman die Risse und Klüfte in der Seele seiner Protagonisten und derer Beziehungen. Es wird gelitten, verführt, gemeuchelt, gelogen und manipuliert, was das Zeug hält; und der Zuschauer steht beim Betrachten von soviel Verworfenheit selbst wie schwindelnd am Abgrund seiner menschlichen Existenz.

In vielen „Poppea“-Inszenierungen liegt der Fokus vor allem auf den unmoralischen Umtrieben von Kaiser Nero: Mächtiger Mann und dessen verhängnisvolle Liebschaft. Das ist soweit nicht verkehrt. Aber die eigentliche Titelfigur ist schließlich (die übrigens einige Jahre vor Nero in Pompeji geborene) Poppaea Sabina, wie ihr vollständiger Name lautet. Bereits zu Lebzeiten galt sie als außerordentlich schöne und begehrenswerte, darüber hinaus auch gebildete und intelligente Frau - mit allerdings schwierigem, egozentrischem Charakter.

In der Aufführung sehen wir eine hübsche, gepflegte und stets wohlgekleidete junge Dame mit leerem Blick, deren offenbar einziges Bestreben darin besteht, andere Menschen um den Finger zu wickeln und für sich gefügig zu machen. Nerone, ein eigentlich wenig attraktiver Mann mit Halbglatze und langem dünnem Flatterhaar im Schlabberanzug ist bereits zu Stückbeginn im Netz von Poppeas erotischen Qualitäten gefangen. Doch ihr geht es offensichtlich nicht um diesen speziellen Mann, sondern viel mehr um dessen Position im Reich. Dass darüber hinaus ihre amourösen Aktivitäten nicht allein auf Nero gerichtet sind, lässt sich im Laufe der Handlung immer wieder deutlich ablesen. Die sprichwörtliche Chuzpe, mit der Poppea Menschen verführt, täuscht und für sich gewinnen kann, ohne selbst jemals in den gesponnenen Fäden auch nur ansatzweise zu straucheln, verblüfft und schockiert beim Zuschauen.

Gesungen wird auf allerhöchstem, beglückendem Niveau: Ralitsa Ralinova in der Titelpartie und Catriona Morison als Nerone sind ein szenisches wie sängerisches Traumpaar der Extraklasse. Catriona Morisons Mezzo sprudelt reich und schön aus schier unerschöpflicher Quelle, während Ralitsa Ralinova mit ihrem warmen und runden Sopranklang weich, ausgeglichen und kraftvoll über die gesamte Tessitura hinweg den Zuhörer bezaubert. Die beiden Künstlerinnen loten die emotionalen wie stimmlichen Vorgaben ihrer Partien mit leidenschaftlicher und uneitler Hingabe bis in allerfeinste Nuancen aus. Karamelartig schmelzende Pianissimi hin zu leidenschaftlichen Ausbrüchen durch alle Lagen, mühelose Koloraturen sowie wunderschön miteinander harmonierende Timbres bilden eine echte Glückskonstellation für die Wuppertaler Opernbühne.

Nach über drei Stunden im berühmten Schlussduett „Pur ti mio“ verweben sich beide Stimmen nochmals auf fast überirdischem Niveau, mit durch den Äther schwebenden Piani, scheinbar endlos leuchtend, wie losgelöst von ihrem Schicksal, ihrem Leben, ihren düsteren Taten; singend, als wären da nur noch ihre Seelen in der Ewigkeit.

Insgesamt sieht die Partitur die solistische Besetzung von weit über 20 Partien vor. Etliche Sänger wurden deswegen mit mehreren kleineren Rollen betraut. Es darf als außergewöhnliches Plus für die Wuppertaler Besetzungspolitik anerkannt werden, für diese Aufführung eine sowohl schauspielerisch rollendeckende als auch stimmlich absolut kapable Sängerriege aufzubieten.

Einziger Bass im Solistenensemble ist Seneca. Der zu Lebzeiten wie auch im Opernlibretto kontrovers betrachtete Philosoph kann im ersten Teil der Oper zwar noch ansatzweise als moralischer Anker dieser moralisch zerrütteten Gesellschaft dienen. Aber letztlich steht er auf verlorenem Posten und ist ebenso wie alle anderen nur eine Spielfigur in diesem Monopoly aus Korruption und Berechnung: ein Weisheitslehrer, der wie ein Hofnarr oder Haustier am Hof gehalten wird, aber dessen Wort nur solange etwas gilt, wie es nicht ernsthaft wehtut. Nach seinem, durch den Kaiser angeordneten Selbstmord nimmt das Verhängnis am Hof dann auch umso schneller und verheerender seinen Lauf, als wären damit alle Dämme gebrochen. Sebastian Campione stattet den Philosophen mit hellem Bassbariton und einer Erscheinung, die irgendwo zwischen Sufimeister und fernöstlichem Guru changiert, überzeugend aus.

Zu erwähnen ist das klangschöne und homogene Terzett der aus dem Off seinen Tod beklagenden „Famigliari“.

Anna Alàs i Jové als Ottavia sorgte für weitere künstlerische Höhepunkte in dieser aufwühlenden Aufführung.
Mit ihrem ebenso kraftvollen wie klangschönen Stimm-Material gestaltet sie in ihrer Ottavia ein außergewöhnliches Rollenportrait. Sie versieht die betrogene und verstoßene Frau mit großartiger Energie und immensem Überlebenswillen. Ihre beachtliche Wandlungsfähigkeit zwischen dramatisch überzeugenden Ausbrüchen bis hin zu fahlen, lyrischen, verinnerlichten Klagetönen beweist sowohl technische Sicherheit als auch außerordentliches sängerisches Ausdrucksvermögen, das im eindringlich vorgetragenen „Addio Roma“ seinen naturgegebenen Höhepunkt fand. Aber auch durch ihren virtuosen körperlichen Einsatz vermochte Anna Alàs i Jové eindrucksvolle Akzente zu setzen.

Als in unglücklicher Liebe zu Poppea gefangener Ottone beglückt der kroatische Countertenor Franko Klisovic die Zuhörer mit ausgesprochen runder, wohlklingender und gut geerdeter Stimme. Und auch seine spätere Geliebte Drusilla, gesungen von der österreichischen Sopranistin Johanna Rosa Falkinger erfährt mit ihrem überzeugenden, natürlichen Spiel und ihrer frischen, beweglichen Stimme viel Zuspruch.

Der subjektive „Autorenpreis“ für die beste(n) Nebenrolle(n) geht an Hyejun Kwon. Die junge Koreanerin ist Mitglied des Opernstudios NRW und fiel bereits im Prolog als Fortuna mit ausgesprochen schöner, nuancenreicher und runder Stimme auf. Auch in ihren weiteren Rollen als Valetto und 1. Famigliare wusste sie alle musikalischen und szenischen Anforderungen mit liebevoller und detailreicher Gestaltung aufs Schönste zu erfüllen.

Poppeas Amme Arnalta, vom Komponisten als Männerrolle konzipiert, wurde durch den Kölner Charaktertenor John Heuzenroeder verkörpert. Es ist bewundernswert, wie Heuzenroeder den Spannungsbogen zwischen Komik, Groteske und Tiefgang zu füllen vermag, dabei sowohl stimmlich als auch darstellerisch nie ins Chargieren abgleitet und durch alle Wandlungen seines bzw. ihres Schicksals, sowohl in den lauten wie auch leisen Momenten stets eine ausgefeilte und glaubhafte Charakterstudie zeigt.

Banu Schult als Nutrice singt mit ihrer reifen Stimme sehr verinnerlicht und gleichermaßen unsentimental ihre Arie über das Älterwerden der Frauen. Ein schonungsloser, offenbar treffender Text, der besonders im weiblichen Publikum vielerlei Reaktionen auslöste und für teils verlegen kichernde Unruhe sorgte. Das Theater als Spiegel des Lebens; Plötzlich sind wir alle nackt.

Das Regieteam hatte die ursprüngliche Besetzung um eine weitere (stumme) Rolle erweitert: „Il tempo“ - die Zeit. Durch die Tänzerin Bettina Fritsche wird sie schillernd-elegant, unaufdringlich-präsent, mit vornehmem Gleichmut und dezenten szenischen Aktionen gestaltet. Nur eine einzige Stückfigur, der der Götterwelt zugehörige Mercurio (Simon Stricker), wird dieser Gestalt gewordenen Zeit einmal in einem kleinen, stummen Dialog begegnen. Den übrigen Akteuren auf der Bühne bleibt sie unsichtbar und vermittelt nur dem Publikum ihre unausweichliche Präsenz mit beinahe chirurgischer Genauigkeit.

Das Wuppertaler Sinfonieorchester unter der trefflich umsichtigen Leitung von Matthew Toogood präsentiert die von Philippe Boesmans geschaffene Rekonstruktion der Oper untadelig, sauber und präzise.

Das durch Immo Karaman entworfene Bühnenbild war ursprünglich für eine andere Inszenierung vorgesehen, die wegen des Wasserschadens im Sommer 2021 jedoch abgesagt werden musste.
Nun wurde es für diese „Poppea“ eingesetzt. Wir sehen eine durch und durch graue, an ein altes Schlossgemäuer gemahnende Bühne. Herab- oder beiseitefahrende Wände ermöglichen eine Verwandlung in die verschiedensten Spielräume. Vor dem grauen Hintergrund kommen Fabian Poscas farbenreiche und im Stile der 80er Jahre expressiv schillernde Kostüme eindrucksvoll zur Geltung. Vermutlich kein Zufall, wenn uns Prototypen aus diversen Fernsehserien jenes Jahrzehnts nun plötzlich auf der Bühne wiederbegegnen.

Doch ob Fernsehen oder Leben, ob Opernbühne oder Kino, ob 17. oder 21. Jahrhundert - bei genauer Betrachtung ist alles sowieso nicht weit voneinander entfernt. Die Dramen von damals sind die Dramen von heute, die Menschheit wurde in der Zwischenzeit nur partiell klüger. Und genau diesen raum- und zeitübergreifenden point of view vermittelt die aktuelle Inszenierung in Wuppertal auf eindrucksvolle Weise. Mit dem Brennglas in die verborgensten Kellerabteile der menschlichen Psyche leuchtend, den dunkelsten und bösesten Punkt schmerzhaft berührend und ihn im Scheinwerferlicht, wie unter einem Mikroskop, der Welt präsentierend.

Eine Regie, die die Kraft und Ausstrahlung ihrer Darsteller zu entfalten und deren Energie zu entfesseln weiß, die eine Geschichte packend und spannend zu erzählen vermag, die berührt, verstört, aufrüttelt, nachdenklich macht. Eine Inszenierung, die man gesehen haben sollte.

Weitere Vorstellungen am 07.05. / 12.05. / 02.06. / 25.06.2023




Besetzung:


MATTHEW TOOGOOD - Musikalische Leitung

IMMO KARAMAN - Inszenierung und Bühne

FABIAN POSCA - Kostüme und Choreografie

MARIE-PHILINE PIPPERT - Dramaturgie


RALITSA RALINOVA - Poppea

CATRIONA MORISON - Nerone

ANNA ALÀS I JOVÉ - Ottavia

FRANKO KLISOVIC - Ottone

JOHANNA ROSA FALKINGER - Drusilla / Virtù

SEBASTIAN CAMPIONE - Seneca

HYEJUN KWON - Fortuna / Valletto / 1. Famigliare

THEODORE BROWNE - Amore / Liberto / Lucano / 1. Soldato

TINKA PYPKER - Pallade / Damigella

JOHN HEUZENROEDER - Arnalta

BANU SCHULT - Nutrice

SIMON STRICKER - Mercurio

YISAE CHOI - Littore / 3. Famigliare

MARCO AGOSTINI - 2. Soldato / 2. Famigliare

BETTINA FRITSCHE - Il Tempo (Die Zeit)


STATISTERIE DER WUPPERTALER BÜHNEN

SINFONIEORCHESTER WUPPERTAL


Titelbild: ©Jens Grossmann, Theater Wuppertal