Es ist Herbst. Das Tier sitzt am Fenster und schaut hinaus. Es betrachtet den Regen, sieht die Blätter fallen und schaut dabei traurig aus.
Ich muss an Rilke denken: „Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe und hinter tausend Stäben keine Welt…“.
Das Tier weiß nichts von Literatur (so wie es sich auch nicht für Nachrichten und Politik interessiert), es hat einfach Sehnsucht, ist ihr ausgeliefert mit allen Fasern. Es möchte schreien, singen, rennen, die Wände hochgehen. Es möchte endlich wieder diesen schwarzen, staubigen Holzboden spüren, ihn mit Händen und Füßen ertasten, sich ausstrecken, tanzen... Es möchte von dort nach oben schauen - in jenen schwarzen Himmel voller Holz, Metall, Technik; in einen Himmel, aus dem irdische, schwarz gekleidete Götter Wolken weißer Plastikfetzen rieseln lassen. Zusehen, wie diese sich zu Nebel verdichten und im Licht der Scheinwerfer in der Luft tanzen… Jetzt nur nicht einatmen! Der dunkle Boden bedeckt sich nach und nach mit einer weißen Schicht. Die Seele des Tieres springt im Flockenwirbel. Die Arme ausbreiten und in einer weißen Landschaft stehen, die Kälte spüren, auch wenn es warm ist; den Schnee, der nicht taut, sondern sich in den Ritzen festsetzt, in der Kleidung… und der in den Haaren unversehrt selbst durch den Sommer läuft.
Und es vermisst all die anderen Tiere, mit denen es Schulter an Schulter im Dunkel, im Orkan der Klänge, im Gewitter der Lichtblitze, im gemeinsamen Atem zu einer Welle wird, zu einem Fischschwarm, einer Lawine oder zu einer Wolke aus irrlichternd glühenden Herzschlägen einer italienischen Sommernacht.
Es vermisst auch die klugen und mutigen Dompteure, jene weisen Löwenbändiger, die den Tieren den Himmel aufschließen, ihnen von der Weite des Meeres erzählen, alle Horizonte verschwinden lassen, die den Tieren beibringen zu fliegen, zu zaubern, zum Gespenst zu werden, zum Baum, zum Raubtier, zur Schlange… Jene Magiere, die mit ihren Gedanken Donner, Regen und Blitze erschaffen. Sonnenauf- und Untergang in einem eigenen Rhythmus, aus einem anderen Stoff als in der restlichen Welt - und Gezeiten der Sehnsüchte.
Das Tier möchte eintauchen in diesen Ozean der Träume, die Strömung spüren, sich verwandeln, Wasser werden. Es möchte den Schweiß, die Anspannung, die Erschöpfung, die Freude fühlen; es scharrt mit den Hufen und begreift das alles nicht - das Schweigen, das Nichts, das Verstummen… Das Tier sitzt in der Ecke. Dieses Tier in mir. Das Bühnentier. „…ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte, / in der betäubt ein großer Wille steht.“
Ich betrachte es mit Sorge: ist sein Fell nicht schon ein wenig stumpfer geworden? Sein Blick etwas fahler? Manchmal bekomme ich Angst, dass das Tier krank und schwach werden könnte, dass es sich irgendwann nicht mehr erholt und diesen Winter womöglich nicht übersteht. Dass ich nichts für es tun kann. Dass ich zuschauen muss, wie es immer weniger wird. Dass es mich irgendwann nicht mehr zum Lachen bringen wird, oder zum Weinen. Dass es hinter dem gefallenen Vorhang keine Luftsprünge mehr machen kann und vom Spielen keine Schneeflocken, kein Konfetti, keinen Glitzer, keine vergessenen Haarnadeln mehr mit nach Hause bringen wird. Schon jetzt vermisse ich, ihm abends den Schweiß und die Schminkreste abzuduschen, die müden Füße hochzulegen, die Ohrwürmer und Melodiefetzen überall im Haus herumliegen zu haben…
Ich nehme das Tier in den Arm, wiege es sanft, erdenke ein Märchen, wünsche ihm einen ruhigen Winterschlaf und süße Träume, erzähle vom kommenden Frühling und hoffe, hoffe, hoffe…
Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden, dass er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.
Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,
der sich im allerkleinsten Kreise dreht,
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,
in der betäubt ein großer Wille steht.
Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille
sich lautlos auf -. Dann geht ein Bild hinein,
geht durch der Glieder angespannte Stille -
und hört im Herzen auf zu sein.
(Rainer Maria Rilke "Der Panther")