Liebe. Stimme. • Brief einer Sängerin an ihr Instrument.





"Canta, canta, anima pura." - Singe, singe, reine Seele. - dieses Zitat unbekannter Herkunft hatte mir meine erste Gesangslehrerin in die Noten geschrieben. Und zwar am schwärzesten aller schwarzen Tage. Ich war 19 Jahre alt, nach diversen Vorausscheidungen zu einem landesweiten Wettbewerb zugelassen worden, dort allerdings nach der ersten Runde rausgeflogen und befand mich nun innerlich am Boden. Zerstört. Alle Hoffnungen in den Wind. 
Dass ich die Zulassung zum Gesangsstudium bereits in der Tasche trug, meine ganze Zukunft noch vor mir lag, ich danach noch jahrzehntelang singen und mit diesem Singen meinen Lebensunterhalt bestreiten würde, spielte damals natürlich keine Rolle. In jenem Augenblick war ich einfach mit der Nase auf den Asphalt des noch gar nicht richtig begonnenen Berufsweges gekracht, lag heulend und schniefend im Zustand eines egomäßigen Totalschadens auf dem Hotelbett, und hätte am liebsten alles für immer hingeworfen. Und habe danach viele Jahre benötigt, um zu begreifen, was die Worte meiner damaligen Lehrerin wirklich bedeuteten; wieviel Wahrheit, Liebe, Zuversicht und Vertrauen in ihnen steckte.

Heute, über dreißig Jahre später, und hoffentlich noch lange nicht am Ende des Weges angekommen, möchte ich mich gern bedanken - bei Dir, liebe in mir wohnende, angeborene Stimme. Du warst schließlich von Anfang an dabei. Nach der Geburt hattest Du vermutlich mit einem Schrei als erste mein Leben begrüßt. Arglos, unbefangen, lebensfroh, hattest Du Freude zu quieken, hast geweint, nach und nach mit kleinen tastenden Lauten unsere Sprache entdeckt und gelernt, mit Deiner Kraft für uns beide einzustehen.
Aber lange bevor ich erkannte, wie ich Dich zum Sprechen, Argumentieren und Streiten benutzen kann, hast Du einfach gesungen: ein Kinderlied. In einem Rollwagen aus Holz. Zusammen mit meinem Großvater vor einem Geschäft wartend. Der Überlieferung zufolge hatte sich eine kleine Menschentraube versammelt, um zuzuhören. So gesehen war dies wohl unser erster gemeinsamer öffentlicher Auftritt. Der unschuldigste von allen.

Später bist Du in die Schule gegangen. Kleine und allmählich größere Stimmübungen. Terzen, Quinten, Oktaven. Die ersten Stücke aus dem „Vaccai“. Irgendwann mal ein Lied und sogar eine kleine Arie - „L'ho perduta... me meschina“, jenes Mikro-Seelendrama der kleinen Barbarina im Schatten der großen Verwicklungen rund um „Figaros Hochzeit“. Und wie eine junge, vor Anstrengung zitternde Ballettschülerin an der Stange war ich vollauf damit beschäftigt, Dich, den Atem und die Noten irgendwie in Balance zu halten. Der Traum vom schwerelosen, beglückenden Singen schien in unerreichbare Ferne gerückt. Alles ein einziges Stolpern, nach Luft schnappen und über Wasser bleiben.
Du solltest geformt werden, und vermutlich wusstest Du oft nicht mehr, wo Dir der Kopf stand - Korrekturen, Bewertungen, unterschiedlichste Vorstellungen, was aus Dir einmal werden sollte… Du wurdest ausgebildet, trainiert (ja: Blut, Schweiß und Tränen…), biegsam, gefügig gemacht - und irgendwann, nach Jahren, hattest Du sozusagen Dein Abitur in der Tasche; wir beide galten als professionelles Team und zogen hinaus ins Leben, zum Geldverdienen, auf jene Bretter, die die Welt bedeuten.
Doch wo war sie inzwischen geblieben - diese Einfachheit, das friedvoll Unbedachte und von allen Erwartungen Losgelöste?
In der Arena zogst Du nun Deine Kreise. Schritt, Trab, Galopp. Ob auf Sand, Teppich, Glasscherben, Kies oder spiegelglattem Boden. Ob die Scheinwerfer blendeten, ob es Blumen gab oder eine Torte ins Gesicht - Du hast immer getan, was in Deinen Möglichkeiten stand. Gemeinsam haben wir etliche Gipfel erklommen und viele, viele ebene Wanderstrecken durchgestanden. Wir haben uns gefreut und waren stolz, wenn es Erfolg und Zuspruch gab - wobei: wer war stolz? Vielleicht doch nur ich allein, und Du unbeachtet im Schatten meines Egos? So wie Henry Higgins, als er nach dem Ball und der gewonnenen Wette triumphierte, während Eliza wie ein abgelegter Regenschirm in der Flurgarderobe des monatelangen Trainings landet...? 
Und wenn es schiefging? Dann war ICH betrübt und habe an DIR gezweifelt. Habe geglaubt, dass Du nicht gut genug wärest, dass andere Stimmen schöner und tauglicher wären. In diesen Momenten habe ich Dich verraten... Es war mir damals nicht bewusst, bitte verzeih.

Natürlich habe ich Dich immer gepflegt - weil sich das so gehört. Weil es professionell ist. Mit den Jahren wusste ich immer genauer, was Du benötigst, um einsatzfähig  zu bleiben, um zu funktionieren und für mich in den Ring gehen zu können. Wenn Du krank wurdest, fand ich Mittel und Wege, Dich auf dem schnellsten Wege wieder gesund zu machen. Ja, ich wusste immer, wie wichtig Du für mich bist...
Aber war das alles fair? Oder bin ich blind durch die Gegend gelaufen? 
Habe ich Dich trotz aller materiellen Fürsorge nicht zu lange achtlos hinter mir her gezerrt?
Ist nicht etwas Wichtiges auf der Strecke geblieben?
Wann habe ich Dich gefragt, wie es Dir bei all dem geht? Ob Du das überhaupt möchtest? Ob Du es SO möchtest? Ob Du noch glücklich bist und aus reiner Lebensfreude singst oder einfach nur noch als tapferer Soldat mit in die tägliche Proben- und Vorstellungsschlacht ziehst? 
Bitte verzeih, dass ich Dich über lange Strecken als zu selbstverständlich angesehen, zu selten mit Dir gespielt, Dir zu wenig zugehört habe. Dass ich Dich zu selten gefragt habe, was Du wirklich und im Innersten möchtest. 
Verzeih, dass Du so lange im Schatten meines Wollens und meines Ehrgeizes stehen musstest. Dass Du den Kopf dafür herhalten musstest, weil ICH gut sein und es irgendwie der Welt zeigen wollte, anstatt einfach DIR zu folgen - demütig mit Dir und der Musik gehen, statt das Steuer an mich zu reißen und die imaginäre Peitsche zu schwingen.
Danke, dass Du das über all die Jahre mitgemacht hast, gesund und bei mir geblieben bist!

Liebe Stimme, vielleicht hast Du es ja schon gespürt seit einiger Zeit, dass es mittlerweile ein bisschen anders läuft, ich es jetzt anders versuche? (Du hast es natürlich bemerkt. Von uns beiden bist Du die Sensiblere...) Dass Du schrittweise jeden Tag mehr Raum bekommst für Dich und Deine Sehnsucht. Bitte nimm das an, es ist mein Geschenk an Dich - lauf, tanze, fliege, nimm mein Herz mit, lass uns das Leben singen, dem Atem folgen, alle Türen aufmachen, die Musik hereinlassen und einfach noch mal neu die Welt entdecken.
Blumen, Applaus - alles egal. 
Canta, canta, anima pura!




...in tiefer Dankbarkeit für alle meine Lehrer, die mich auf dem langen Weg mit ihrer Erfahrung, ihrer Klugheit und ihrer Liebe bis heute begleitet haben und weiterhin begleiten!