(Alp-)Traum in der Pathologie • Korngolds "Tote Stadt" in Wuppertal


„Wie weit soll unsre Trauer gehen, wie weit darf sie es, ohn‘ uns zu entwurzeln?“ sind einige der letzten Worte, die der 23jährige Erich Wolfgang Korngold die Hauptfigur Paul in seiner Oper „Die tote Stadt“ singen lässt.
In der Vertonung von Paul Schotts Libretto (nach dem Roman „Das tote Brügge“) lotet der Komponist diese Frage mit existenzieller Wucht und suggestiver Beharrlichkeit aus. Große Aufschwünge im immer stark besetzten Orchester und in jeder Hinsicht fordernde Hauptpartien prägen das Klangbild der selten gespielten Oper.
Rezension der Premiere vom 16.6.2019 für das Das Opernmagazin.


Das Opernhaus Wuppertal hat sich wohl zum ersten Mal in seiner Geschichte dieses Stückes angenommen und die szenische Realisierung in die Hände des Regie-Duos Immo Karaman (Regie und Bühne) und Fabian Posca (Kostüm und Choreographie) gelegt.
Der Vorhang öffnet sich und gibt den Blick auf einen schmucklosen grauen Raum frei. Von der Decke scheint fahles Licht herab. Kein Fenster, keine Tür, kein Entrinnen. Die einzige Öffnung im Raum ist eine metallene Klappe, aus der die Leiche einer Frau zur Hälfte herausragt. Es ist die tote Marie.
Neben ihr ein Stuhl, darauf ein Mann – Paul, müde, erschöpft und übernächtigt, das Hemd ein wenig aus der Hose hängend, die Jacke achtlos über die Stuhllehne geworfen. Am Boden eine Tasche. Paul nimmt eine Schere und schneidet unter Tränen eine Strähne aus den langen blonden Haaren seiner toten Frau.
Dies ist die zentrale und immer wiederkehrende Ausgangssituation im alptraumhaft-grotesk berührenden Reigen um Pauls Trauer.

Korngolds spätromantische raffiniert-rauschhafte Tonsprache mag zuweilen im Kontrast zur kühlen, fast mathematisch durchdachten, klar strukturierten Bebilderung stehen. Aber beides bekommt seinen Raum, ergänzt sich und gelangt an diesem Abend zu erhellender Wirkung. Vertikale und horizontale Vorhangfahrten erzeugen überraschende Szenenwechsel, filmischen Überblendungen gleich, die die Bilder wie Traumsequenzen verschmelzen lassen: 
Eine Beerdigungsgesellschaft. Im Hintergrund eine Baumlandschaft im Regen, die Tropfen Pauls Tränen gleich.
Ein Strauß schwarzer Rosen wird von Brigitta ins Zimmer gebracht. Wenige Sekunden später steht der Rosenstrauß in leuchtenden Farben, und Marietta befindet sich mitten im Zimmer.
Eine Szene im Varieté. In violettes Licht getaucht, singt Marietta ihre Arie. Einem „memento mori“ gleich betritt eine altgewordene Kurtisane die Szene, trägt mit zitternder Hand ein Getränketablett. Ein Lächeln, ein Gedanke, eine Erinnerung huscht über das faltige Gesicht… Glück, das mir verblieb.
Die lebendige Marie aus Pauls Erinnerung sitzt am weißgedeckten Tisch; sie reden. Szenenwechsel. Derselbe Tisch; die Tischdecke als Leichentuch über dem leblosen Körper.
Verwandlungen, die das Herz stocken lassen, die begreifen lassen, wie dicht alles beieinander liegt – Leben und Tod – Glück und Schmerz – und dass im Leben alles stets nur einen Wimpernschlag, im Theater eine Vorhangfahrt, voneinander entfernt liegt.
Einmal öffnet sich in diesem hermetisch abgeriegelten Raum aber doch die hintere Wand. Der Zuschauer erblickt ein brennendes Autowrack, leblose Körper daneben. Aus der Todesszenerie erwächst fast surreal die Szene der Tänzer und Komödianten. „Mein Sehnen, mein Wähnen, es träumt sich zurück, im Tanze gewann ich, verlor ich mein Glück“ singt Fritz inmitten der Trümmer im Schein einer Taschenlampe. Es könnte auch die Seelenstimme Pauls sein. Wie ein Todesengel erscheint eine Statistin, lediglich mit Unterwäsche und Nonnenhaube bekleidet. Immer mehr verwischen die Grenzen zwischen Realität und Fiktion, gleiten Situationen und Stimmungen ineinander. Tanz auf dem Vulkan oder Phoenix aus der Asche – man weiß es nicht mehr so genau. Es taucht der Gedanke auf, ob hierin ein Sinnbild für das Entstehen von Kunst liegen könnte. Auf den Trümmern tanzen, aus dem Zerstörten etwas Schönes und Wahres entstehen zu lassen…?

Nach der Pause finden wir Marietta und Paul zusammen im Zimmer. Marietta ist der toten Marie äußerlich vollkommen ähnlich geworden. Sie ringt um Pauls Liebe und seine Zuwendung und lässt dies zu den emotional ergreifendsten Momenten des Abends erwachsen. Für einige Augenblicke hält Marietta Pauls Jacke wie ein Baby im Arm. Im Streit schlägt er sie ihr aus der Hand. Für Marietta wird es sich angefühlt haben wie Mord.
Noch einmal öffnet sich die hintere Wand der Bühne, wieder wird ein Auto sichtbar; Marietta steigt ein; eine Videoprojektion zeigt eine Unheil verheißende Tunnelfahrt…
Marie und Marietta – hat es beide wirklich gegeben? „Ein Traum hat mir den Traum zerstört, ein Traum der bittren Wirklichkeit…“.

Solisten, Orchester, Chöre und Statisterie leisten Großartiges. Susanne Serfling in ihrer Doppelrolle als Marie und Marietta und Jason Wickson als Paul erweisen sich als hingebungsvolle Interpreten ihrer Gesangspartien und des Regiekonzeptes. Die Sopranistin, die sich in ihrem Fach bereits eine beachtliche Bandbreite an lyrischen bis jugendlich-dramatischen Partien ersingen konnte, lotet mit ihrem Rollendebut die Charaktere beider Frauen szenisch und stimmlich genauestens aus: sie verleiht der Marietta frische und kokette Farben und bringt als Marie weiche fließende und warme Töne zu Gehör. Ihre schöne Stimme klingt sowohl in den dramatischen Ausbrüchen als auch in weiten lyrischen Bögen in jeder szenischen Situation und allen Lagen stets ausgeglichen und sauber geführt.
Der Amerikaner Jason Wickson, zu dessen Repertoire bereits Florestan, Don Jose und Calaf gehören, gibt mit der Partie des Paul in Wuppertal zugleich sein Deutschland-Debut. Den trauernden, in sich gekehrten, vor Kummer wie gelähmten Mann verkörpert er in bewegender Weise und meistert die anspruchsvolle Partie stimmlich sicher und musikalisch souverän.
Mit Simon Stricker als Frank und Fritz steht aus dem Wuppertaler Ensemble ein wohltimbrierter Bariton zur Verfügung, der nicht nur seine berühmte Arie klangschön und eindrucksvoll zu gestalten, sondern auch in anderen Szenen zu überzeugen wusste.
Ariana Lucas gelang es als Brigitta, ein anrührendes Rollenportrait zu gestalten, und auch die weiteren Solisten aus dem hauseigenen Ensemble gefielen in ihren Rollen mit schönen Stimmen und schauspielerischem Talent.
Der von Markus Baisch einstudierte Opernchor sorgte in seinem einzigen szenischen Auftritt als gespenstische Prozession für atemberaubende Momente.
Unter der umsichtigen musikalischen Leitung von Johannes Pell meisterte das Sinfonieorchester Wuppertal die komplexen und virtuosen Ansprüche der auch in puncto Klangbalance heiklen Partitur auf überzeugende Weise.
Das Premierenpublikum überhäufte alle Mitwirkenden und das Regieteam mit herzerwärmendem und begeistertem Applaus.

Fazit:
Ein rundum sehens- und hörenswerter Opernabend, den man sich nicht entgehen lassen sollte.
„Die mich lieben, wissen mich zu finden. Es gibt ein Wiedersehen im Theater.“

Besetzung:
Johannes Pell: Musikalische Leitung
Immo Karaman: Inszenierung und Bühne
Fabian Posca: Kostüme und Choreografie
Markus Baisch: Chor
David Greiner: Dramaturgie
Jason Wickson: Paul
Anne Martha Schuitemaker: Juliette
Susanne Serfling: Marietta
Iris Marie Sojer: Lucienne
Simon Stricker: Frank / Fritz
Sangmin Jeon: Victorin / Gaston (Sänger)
Ariana Lucas: Brigitta
Mark Bowman-Hester: Graf Albert

Bildnachweis: Oper Wuppertal/@Wil van Iersel