Der Sommer in mir


Leben ist, wenn du Pläne machst und Gott darüber in Gelächter ausbricht. Oder so ähnlich. 
Wenn es jedenfalls anders kommt...


Um es vorwegzunehmen: wir hatten gebucht. Im Unterschied zu vielen anderen Jahren sogar lange, sehr lange im voraus. Eine Ferienwohnung mit Bergblick mitten im Chiemgau. Die Wanderführer aus der Bibliothek stapelten sich bereits in der Wohnung, die Vorfreude wuchs... und dann waren da ein paar Tage vorher zunächst ein Stau auf der Autobahn, die dadurch ausgelöste verfrühte Abfahrt, ein kleiner spontaner Hunger, dieser Imbiss in der Metzgerei und wenige Stunden später alles, was zu einer anständigen Lebensmittelvergiftung gehört: Fieber, Durchfall, Krankenlager, Arztbesuch... Also adé Berge, Chiemsee, bayrisches Bier, adé verschlungene Passstraßen und Sommerweiden... Willkommen zu Hause!
"Ich bin angekommen, ich bin zu Hause" lautet ein berühmter Ausspruch des vietnamesischen Zenmeisters Thich Nhat Hanh; "Hic Rhodos, hic salta" wussten bereits die alten Griechen; der Vernunftkünstler Kant ist nie aus Königsberg herausgekommen und Goethe hat es in seinem Gedicht "Erinnerung" sogar reimend auf den Punkt gebracht:
"Willst du immer weiter schweifen? / Sieh, das Gute liegt so nah. / Lerne nur das Glück ergreifen. / Denn das Glück ist immer da."
Die Weisen der Welt vereint in meinem geistigen Gepäck, so sollte es doch eigentlich nicht allzu schwer werden, das Auto in der Garage und den Koffer im Keller zu lassen? Nach dem Urlaub dieses Mal keine Berichte von aufregenden Bergtouren und michelinsterngekrönten Menüs schildern und keine Fotos vom Sonnenuntergang über dem Chiemsee präsentieren zu können?
Dafür immerhin viele Autokilometer gespart, die Waschmaschine und den Geschirrspüler in stets greifbarer Nähe zu haben, abends immer in das eigene Bett steigen zu dürfen und im Kleiderschrank stets alles Nötige vorzufinden. Vielleicht ja gar nicht so schlecht?
Aber wenn ich ganz ehrlich und ganz tief in mich hinein lauschte, so brummte da immer noch ein kleiner Groll, etwas, das noch nicht ganz fertig war mit dieser Situation, sich weiterhin sträubte, rumstrampelte und sich wehrte. "Der einzige Urlaub im Jahr...", so dachte und argumentierte es störrisch in mir. Ein inneres Bild von der Sonnenliege am Ufer des Chiemsees mit Blick über das glitzernde Wasser drängte sich immer wieder ins Bewusstsein - mußevolles Steinesammeln, den Seglern und Paddlern zuschauen, ein Buch lesen, in den blauen Himmel blinzeln... So sollte es sein, sprach eine durchdringende Stimme wie ein hartnäckiger Anwalt in mir. Ich wurde kleinlaut, hatte einfach nichts dagegenzuhalten. Ja, so sollte es sein, das ist Urlaub, das hatte ich mir schließlich verdient. Und nun sollte mir all das in diesem Jahr verwehrt bleiben. Ich Arme. Böses Schicksal mal wieder.
Und dann saß ich eines Abends einfach nur da. Für Interessierte: es handelte sich um eine Meditation. Zwanzig Minuten einfach nur sitzen, atmen, Gedanken wahrnehmen, weiter atmen, tief in die Stille tauchen, irgendwann wieder auftauchen und - voilà, so merkwürdig es klingen mag: da war sie, die Erleuchtung. Oder zumindest so etwas ähnliches. Plötzlich herrschte Frieden. Entspannung breitete sich aus. Ich war angekommen. In diesem Urlaub. Im Hier und Jetzt.
Dass wir am Ende doch noch Steine gesammelt haben, wenn auch nicht am Chiemsee, so doch nur wenige Kilometer von zu Hause entfernt - am Rheinufer; dass es dort und anderswo noch viele Blicke übers Wasser geben sollte, ruhige Vormittage in der Sonne, dicke Erdbeerkuchen aus dem Hofladen nebenan, einen Spielenachmittag, Spaziergänge, auf denen wir vom Regen überrascht wurden und schnell nach Hause rannten, Zeit für ausgiebige Frühstücke, fürs Nichtstun und dafür, diesen Blog ins Leben zu rufen - all das erschien wie eine lange Reihe von Zugaben und unerwarteten Geschenken. Ganz ohne "dennoch" oder "trotzdem".
Ein Sommer, der mit vollen Händen gab.
Dieser Sommer vor der Tür, 
der Sommer in mir.
Angekommen und zu Hause.
©Sibylle Eichhorn